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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2016 ”Als Berg geradezu unförmig”: der Gotthard in der Geschichte der Schweiz, Interview mit Jürg Ackermann Tanner, Jakob ; Ackermann, Jürg Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-124853 Newspaper Article Originally published at: Tanner, Jakob; Ackermann, Jürg. ”Als Berg geradezu unförmig”: der Gotthard in der Geschichte der Schweiz, Interview mit Jürg Ackermann. In: St. Galler Tagblatt, 28 May 2016, p.25.

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Page 1: ”AlsBerggeradezuunförmig”: … · 2020. 12. 1. · mit der zentralen Lage des Berges im Herzen der Schweiz zu tun? Tanner: Ja,aber dieses Herz ist ein Bild, eine Metapher.Esist

Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichMain LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.ch

Year: 2016

”Als Berg geradezu unförmig”: der Gotthard in der Geschichte der Schweiz,Interview mit Jürg Ackermann

Tanner, Jakob ; Ackermann, Jürg

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-124853Newspaper Article

Originally published at:Tanner, Jakob; Ackermann, Jürg. ”Als Berg geradezu unförmig”: der Gotthard in der Geschichte derSchweiz, Interview mit Jürg Ackermann. In: St. Galler Tagblatt, 28 May 2016, p.25.

Page 2: ”AlsBerggeradezuunförmig”: … · 2020. 12. 1. · mit der zentralen Lage des Berges im Herzen der Schweiz zu tun? Tanner: Ja,aber dieses Herz ist ein Bild, eine Metapher.Esist

Bilder: ky

SCHWERPUNKT

Menschen,Mythen,MeilensteineDie erste Beschreibung einerReise über den Gotthard datiertaus dem Jahr 1234. Drei Jahrespäter ist ein Hospiz, das heisstein Spital, auf der Passhöhe be-zeugt, das von Klosterbrüdernbetrieben wird. Sie berufen sichauf den heiligen Gotthard, densie als Erneuerer, Kloster- undSchulgründer und Heiler ver-ehren. So kommt zum Gotthardals einem für den Handel langeeher untergeordneten Pass einereligiöse Bedeutung hinzu. Siefindet ihre weltliche Entspre-chung in all den Mythen, diesich im Verlauf der Jahrhun-derte an den Gotthard heften.

Über diesen Pass geht eslange mühselig und gemächlich.Bis die Stunde der Ingenieureschlägt. Und die Stunde derTunnelbauer. Schon 1707 boh-ren sie bei Andermatt das aller-dings nur gerade sechzig Meterlange Urner Loch. 1882 wirddann mit dem 15 Kilometer lan-gen Eisenbahntunnel eine tech-nische Meisterleistung erbracht.Allerdings zu einem hohenPreis. Beim Bau kommen mehrals hundert Menschen ums

Leben, ein Aufstand der Mineu-re wird von einer Bürgerwehrniedergeschlagen.

Heute leben wir in anderenZeiten. Von ihnen erzählen diefolgenden Seiten. Sie porträtie-ren Menschen, die am Bau desGotthardbasistunnels beteiligtwaren. Sie handeln von denFinessen der Vermessung underzählen vom langsamen Ver-schwinden der Landschaft.

Mit dem Basistunnel werdedie Schweiz verkehrstechnischflach, sagt der Historiker JakobTanner im Interview. Was manbedauern kann.

Rolf App

Der Gotthardtunnelals neuer

Beherrschungsgradvon Raum und Zeit.

Bild: pd

Jakob TannerEmeritierter Professor fürGeschichte an der Uni Zürich

«Als Berg geradezu unförmig»Mit dem Durchstich 1882 wird er zu einem Symbol für die Moderne und gleichzeitig zu einem Sammelbeckenfür nationale Mythen: Historiker Jakob Tanner erklärt, warum der Gotthard in der Schweizer Geschichte derart wichtig ist.

JÜRG ACKERMANN

Herr Tanner, ist die Eröffnung desGotthard-Basistunnels ein Jahr-hundertereignis?Jakob Tanner: Der Eisenbahn-tunnel wurde 1882 gebaut. Im20. Jahrhundert wurde dann vorallem der Privatverkehr am Gott-hard ausgebaut. Die Eröffnungdes Strassentunnels 1980 förder-te die Massenmotorisierung. Mitdem Basistunnel erhält nun deröffentliche Verkehr eine neueDimension und Zukunftsper-spektive. Deshalb: Ja, der längsteTunnel der Welt ist ein Projektder Superlative und ein Jahrhun-dertereignis.

Die Schweiz baut in ihrem Herzeneinen Tunnel für ganz Europa:Wird der Gotthard damit zu einemSymbol für Weltoffenheit?Tanner: Das war der Gotthardauch immer. Schon im 13. Jahr-hundert wurde die sagenumwo-bene «Teufelsbrücke» über dieSchöllenenschlucht als Teil einerPassverbindung gesehen. Mitdem Eisenbahntunnel wurde eineuropäisches Vorhaben reali-siert. Der Direktor Alfred Escherund der Unternehmer Louis Fa-vre waren zwar Schweizer, dieFinanzierung, die Arbeitskräfte,die Techniker kamen zum gröss-ten Teil aus dem Ausland. Dererste Vorschlag für eine alpen-querende «Flachbahn» tauchtebereits 1947 auf. Damals sah derBasler Verkehrsplaner Carl Edu-ard Gruner den Tunnel als Ab-schnitt eines Europa-Afrika-Ex-press. Das war weit über die Lan-desgrenze hinaus gedacht.

Warum wurde der Gotthard trotzdieser Offenheit zu einem Symbolfür die nationale Identität?

Tanner: Die Offenheit gehörteben – trotz gegenteiligen Mei-nungen – zum Selbstverständnisder Schweiz. Der Reichtum desLandes basiert ja zu einem we-sentlichen Teil auf seiner Vernet-zung. Doch der Gotthard hatauch eine andere Seite. Als Berg-massiv ist er konturlos, geradezuunförmig. Umso leichter liess ersich symbolisch überhöhen. Erliefert die Klammer für eid-genössische Sagen und Legen-

den. Apfelschuss, Rütlischwur,Burgensturm: Alle diese erfun-denen Geschichten spielen sichin den Gotthardkantonen ab.

Hat diese Überhöhung nicht auchmit der zentralen Lage des Bergesim Herzen der Schweiz zu tun?Tanner: Ja, aber dieses Herz istein Bild, eine Metapher. Es istwichtig zu sehen, dass es erstdann zu schlagen anfing, als dieVerkehrsader des Gotthardtun-nels vorhanden war. Die Bünd-ner waren ja immer der Mei-nung, ihre Pässe seien das wirk-liche Transitherz des Landes.

Sie sagen, dass das Gotthard-massiv genau zu dem Zeitpunktmythisch überhöht wurde, als esmit dem Tunnelbau in die europäi-sche Verkehrsinfrastruktur inte-griert wurde. Warum?Tanner: Der Tunneldurchstichunterstrich die Modernität derSchweiz, er demonstrierte einenneuen Beherrschungsgrad vonRaum und Zeit. Für den Bundes-staat wirkte das Eisenbahnnetzintegrativ, nicht nur über dieSchienenstränge, sondern auchemotional. Der Gotthard gene-rierte kulturelles Kapital für dieInnerschweiz, die zum nationa-len Kristallisationskern aufge-wertet wurde, als die Region mitder Industrialisierung wirt-schaftlich gegenüber dem Mit-telland ins Hintertreffen geriet.Nationalideologie und Welt-marktintegration sind keine Ge-

gensätze, es stellten sich viel-mehr Synergien ein.

Hatte die Begeisterung für dieAlpen nicht schon viel früher ein-gesetzt?Tanner: Doch, die Erfindung des«Schweizeralpenlandes» fällt ins18. Jahrhundert und wurdedurch die Aufklärung befördert.Wissenschaftliche Studien, ver-klärende Gedichte und der auf-kommende alpine Tourismusführten dazu, dass die Bergweltihren Schrecken verlor. DieAlpen wurden von einer steiner-nen Strafe Gottes für reichs-abtrünnige Eidgenossen zueinem Ort der Erhabenheit.

Warum funktionierte der Gotthardals Projektionsfläche für eine ge-meinsame Identität für die ganzeSchweiz? Was haben die Romandsfür eine Beziehung zum Gotthard?Tanner: An der Wende vom 18.zum 19. Jahrhundert vertratenWestschweizer einen Helvetis-mus, der das «Heil des Vaterlan-des» aus den Alpen herauskom-men sah. Es war dann der reak-tionäre Antidemokrat Gonzaguede Reynold aus Fribourg, der zuBeginn des 20. Jahrhunderts denGotthard zum «ewigen Berg derMitte» und zum Hort christlicherWerte stilisierte.

Wo sehen Sie eine Beziehung vonTell zum Gotthard?Tanner: Interessant ist SchillersDrama aus dem Jahre 1804. Hierwerden die Protagonisten in ei-ner idealisierten Alpenszenerierund um den Gotthard angesie-delt. Schiller arbeitet die alterna-tiven politischen Handlungs-schemata der schweizerischenMythologie heraus, die sich wieein Faden durch die Geschichteziehen: Auf der einen Seite müs-sen die Schwachen gegen Mäch-tige zusammenhalten, das ist derRütlischwur. Auf der andern Sei-te steht Tell, der sagt: Der Starkeist am mächtigsten allein.

Ging wegen der Dominanz diesesTell-Diskurses ein Stück Offenheitbei der Gotthard-Deutung verloren?Tanner: Ja durchaus, anfänglichwurde die Zitadelle des Gott-hards noch offensiv verstandenund sie war auf Kontakt mit

Europa angelegt – vor allem mitdem Bild des Quellberges, vondem die vier grossen StrömeEuropas ausgehen. Erst im20. Jahrhundert wurde das Gott-hardmassiv zu einer nationalenTrutzburg umgedeutet, zu einermilitärischen Festung ausge-baut.

Sie haben sich immer wieder mitdem Reduit befasst und dieses alsDemutsgeste gegenüber Nazi-Deutschland interpretiert. Aber wardie Konzentration der Armee aufden Gotthard nicht vor allem auchein Ausdruck von Wehrwillen?Tanner: Was die Gruppe umOberstkorpskommandant UlrichWille betrifft, so war die Forde-rung nach einem Rückzug derTruppen in die Alpen zweifelloseine Demutsgeste. Wille wardeutschfreundlich, er wollteEnde 1939 einfach das Feld räu-men. Ich habe stets betont, dassGeneral Guisan das Reduit-Kon-zept im Sommer 1940 auf Wider-stand umgepolt hat. Doch aucher war auf prekäre Kompromisseangewiesen und hat in dieserneuralgischen Phase zwei Drittelder Soldaten nach Hause ge-

schickt. Die Wirtschaft und ins-besondere der Export nachDeutschland gingen vor. Die Tat-sache, dass die kombattantenTruppen die Grenze räumtenund in die sicheren Berge ab-wanderten, war damals durch-aus erklärungsbedürftig. DerGotthardmythos half Guisan,sein neues Verteidigungskonzeptzu kommunizieren.

Blieb der Gotthard in der Zeit desKalten Krieges symbolisch ähnlichaufgeladen?Tanner: Der Antikommunismusverhinderte nach 1945 eine kriti-sche Auseinandersetzung mitder Kriegsvergangenheit. DasReduit wurde verklärt. Dabei wares die Armee, die als erste wiederaus der Alpenfestung herausfuhr

und in den 1950er-Jahren eineriesige Aufrüstung in Richtungvollmechanisierte Feldarmeemit 600 000 Soldaten, 800 Flug-zeugen und Atomwaffen forder-te. Die Bevölkerung blieb dem-gegenüber mental stark im Sys-tem der Geistigen Landesvertei-digung gefangen. Der Gottharderschien als tektonische Überle-bensversicherung der freienSchweiz.

Der Gotthard war das Zentrumder Reduit-Ideologie. Inwiefernwird er auch in Zukunft für dieSchweiz als Symbol wichtig sein?Tanner: Man kann über den Gott-hard ganz unterschiedliche, ge-genläufige Geschichten erzäh-len. Er wurde auch von Bundes-rat Etter in der Magna Charta derGeistigen Landesverteidigung1938 zweideutig beschrieben,nämlich als «Pass der Verbin-dung» und gleichzeitig als «Bergder Scheidung». Auf dem Gott-hard kann man ebenso für einennationalen Alleingang wie füreinen EU-Beitritt der Schweizwerben. Der Berg gibt beides her.Oder man kann das ganze Ge-lände auch als touristische Ent-wicklungsregion sehen, wie diesder ägyptische GrossinvestorSamih Sawiris in Andermatt tut.Und dann gibt es auch dasUnternehmen «Swiss Fort Knox»,welches die militärischen Gott-hardfestungen umnutzen will fürsichere Datenspeicherung imWeltmassstab.

Was hat Europa, was haben unsereNachbarn für eine Sicht auf denGotthard?Tanner: Mit dem Basistunnel istdie Schweiz verkehrstechnischflach geworden. Transittouristenwerden von der ganzen Bergweltnur noch wenig sehen. Und imAusland wird die Meinung, derGotthard sei das «Herz Europas»,schon deswegen nicht geteilt,weil sich viele andere auch fürdieses «Herz» halten. Der Gott-hard hat durchaus ein Sichtbar-keitsproblem – im Unterschiedzum Matterhorn, das schon im-mer auch eine markante Werbe-ikone war. Auf europäischen Ver-kehrskarten wird allerdings demNamen «Gotthard» eine grosseZukunft beschieden sein.

Er war immer beides:Ein «Pass der

Verbindung» und ein«Berg der Scheidung».

Bild: ky

Samstag, 28. Mai 2016

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